Norman P. Franke
Karl Wolfskehls INRI-Zyklus
1. Eiuleitung
Karl Wolfskehls "INRI"-Zyklus enthiilt seine religiOsen Anschauun- gen und Fragen in auBerster Verdichtung. In dem Gedicht ist es ihm gelungen, in 63 Strophen - in eklektischer vor allem aber idio- synkratischer Weise - zentrale Texte der jtidischen und christlichen Oberlieferung und dt?s 9eorge-Kreises neu zur Geltung zu bringen und in Beziehung zu setzen. Im folgenden konnen nur Schltissel- passagen aus dem "INRI"-Text herausgehoben und gedeutet wer- den, in denen Karl Wolfskehls tiberragende Kenntnisse von My- thos, Mystik und (Heils-) Geschichte ebenso aufscheinen wie eine gelegentliche Hybriditiit bei seiner Fusionierung unterschiedlicher religioser Traditionslinien. Indessen ist "INRI" keinesfalls nur ein gelehrter Text; vielmehr hat er seinen geschichtlichen und soziolo- gischen Ort im Zusammenhang mit einem von Wolfskehl in der Georgeischen "vates"-Tradition erlebten Gotteskampf, einer gei- stigen - und mindestens aus der Autorperspektive durchaus auch geistlichen - Auseinandersetzung mit neo-paganen Tendenzen in Dichtung und Religion im Deutschland der dreiBiger und vierziger Jahre.
Man kann Wolfskehls "INRI"-Zyklus als Station zum "Hiob"- Zyklus lesen. Seine entscheidenden theologischen Aussagen tiber Eschatologie und Messianismus sind im "Hiob" formuliert.
"INRI" kann durchaus ftir sich gelesen werden, aber er komple- mentiert auch die anderen Ge.dichtkreise des Wolfskehlschen Spiit- werkes. Nimmt man die von Wolfskehl ftir die Exilwerke benutzte Bezeichnung "Zyklus" ernst und sieht sie im Zusammenhang mit der Poetologie des George-Kreisesl, so schreitet "INRI" einen geistigen Urnkreis aus, dessen Zentrum mit dem des Hiob-Kreises zusammenfiillt, auch wenn die "Hiob"-Dichtung die Fragen nach Mensch, Gott und Messias noch einmal auf einer anderen, hoheren
1 Der Zyklus ist ein im George-Kreis hliufig angewandtes Mittel der Komposi- tion, mit welchem auf der gestalterischen Ebene deutlich gemacht wird, wie zeit- lich und personell scheinbar weit auseinanderliegende Dichtungs-Bezi.ige wesentlich zusammengehoren. Topoi, Intertexte, symbolische und formale Beziehungen, welche Gedichtteile oder -gruppen zentrieren oder dynamisieren, konnen dabei u. a. zur Anwendung kommen.
Ebene aufnimmt. Progression und Zyklus fallen in der Spiralbewe- gung von Wolfskehls poetisch-theologischer Komposition des ge- samten Exilwerks am Ende zusammen. In diesem Sinne ist "INRI"
im "Hiob" aufgehoben. Die Kernaussagen des "INRI" bestehen allerdings neben und mit denen der "Hiob"-Dichtung; innerhalb des Exilwerkes fallt ihnen sogar eine zentrale Stellung zu.
2. Forschungsbericht
Im Zentrum der "INRI"-Forschung steht Renate Koch: Sie legte eine kenntnisreiche werkgetreue Rekonstruktion und Interpretation des Zyklus vor2 und wies bereits friih auf zwei rezeptionsge- schichtlich bedeutsame Zusammenhange hin, namlich erstens auf den Einbezug von Zahlenmystik in die Dichtung - auch auf der Grundlage der gematria3 - und zweitens auf die intensive Rezep- tion der biblischen, genauer: der Thora-Uberlieferungen, vor aHem der Erzvatergeschichten, die von Wolfskehl wiederholt poetisch pa- raphrasiert werden. Tatsachlich kommt es - wie Koch bemerkt - im
"INRI" wiederholt und an entscheidenen Stellen zu Synopse und Integration von (rekonstruiert) jesuanischer, christlich-theologi- scher und jiidisch-alttestamentarischer Uberlieferung. Doch diesen Zusammenhang deutet Koch automatisch und ohne iiberzeugende Textbelege anzugeben christozentrisch, als ob etwa z. B. Wolfskehls Affirmierung der Davidischen Sukzession Jesu einzig und allein als Bestatigung christlicher Messianitat und im christologischen Sche- ma von (alttestamentarischer) VerheiBung und (neutestamenta- rischer) Erfiillung zu lesen ware. Kochs christlich-zentrierter Blick wird auch im Hinblick auf die Erwahlungsproblematik deutlich:
meint sie doch, "INRI ist ein Werk, in dem eine Entscheidung ver- langt wird und eine Linie zwischen christlicher Heilsidee und jiidi- schem Glauben gezogen werden soH. "4
2 Koch, Renate, Der deutsch-jiidische Themenkreis im Werk Karl Wolfskehls, Dissertation der George Washington University. o. J.
3 Leider fiihrt sie diesen fiir Wolfskehls Lyrik so wichtigen mystisch-theolo- gischen und asthetischen Rezeptionsbezug nicht weiter aus. Wie umfangreich seine Kenntnisse in diesem Bereich waren, ist jedoch anhand des "INRI"-Textes selbst kaum zu rekonstruieren, dazu bedarf es nicht zuletzt des erSt vor kurzem edierten Briefwerkes. Bemerkenswert in diesem Kontext ist, daB die jiidisch- deutschen Mystiker des 12. und 13. Jahrhunderts, insbesondere aus der Familie Kalonymus, auf die Karl Wolfskehl seine eigene Familiegeschichte zuriickfiihrt, die gematria in die kabbalistische Literatur eingefiihrt und sie dort bleibend . etabliert haben. (Vgl. hierzu das "Kabbalah"-Kapitel in: Encyclopedia Judaeica,
Jerusalem 1972, S. 516).
Zu zeigen wird sein, daB Wolfskehl dem christlichen Entschei- dungs- und Erwahlungszwang gerade eine Absage erteilt, ohne die besondere Begriindung des christlicherseits vorgetragenen Messias- anspruchs im Hinblick auf Jesus zu verwerfen. Gerade weil Wolfs- kehl Jesus in der Verwurzelung seiner jtidischen Uberlieferung an- spricht, kann er den messianischen Anspruch auch der christlichen Tradition herausarbeiten und spezifisch christliche, soteriologische und apokalyptische Messiasvorstellungen kritisch wtirdigen, ohne sie vollstandig zu tibemehmen.
Vor Renate Koch identifizierte bereits Peter Berglar das lyrische Ich des "INRI"-Zyklus mit "Israel" und kam zu dem SchluB: "Is- rael vor dem Christus stehend, vor dem Kreuz, unter dem Kreuz.
Ich kenne kein V ergleichbares in der deutschen Dichtung - und wir besitzen es - in deutscher Sprache und kennen und wissen es kaum! "s In den 63 Strop hen des "INRI" -Zyklus kommt das Wort "Kreuz" indessen ein einziges mal vor, auch der Begriff
"Israel" erscheint nur einmal, allerdings in ganzlich anderem Zu- sammenhang, keinesfalls aber "unter dem Kreuz". Das Wort
"Christus" - oder auch adjektivisch "christlich" - erscheint tiber- haupt nicht im Text! Das "vor und unter dem Kreuz" wird von Berglar offenbar in Anspielung an einen von Wolfskehl verwor- fenen friihen Titel der Dichtung "Tabula Quatema quam sculpsit unus ante portam" verstanden. Am Kreuz entschiede sich dann fiir das lyrische Ich - das nattirlich nicht ohne weiteres mit "Israel"
ineins gesetzt Werden kann - ' ob der Zugang zu Christus moglich sei; der portale Zugang ware dann der Eingang ins christliche Heil.
Es steht aber ante portam und nicht juxta crucem, wobei porta, das Tor6, in jtidischer Tradition zunachst weniger der Ort eines Passagenritus als der Gerichts- und Verhandlungsort ist; und selbst wenn die christliche V erbindung von Kreuz und Eingang ins Heil tatsachlich auch in Wolfskehls Eigeninterpretation entscheidend sein sollte, warum ist es dann fiir Berglar so wichtig, darauf zu bestehen, daB diese theologische Deutung sich bei einem Juden in der deutschen Sprache vollzieht?
In seiner Untersuchung von Wolfskehls religiosem Spatwerk blieb Paul Hoffmann vorurteilsfrei, literaturwissenschaftlich und theolo-
4 Renate Koch in ihrer Dissertation, a. a. 0., 'S. 160.
5 Berglar, Peter, Karl Wolfskehl. Symbolgestalt der deutsch-jiidischen Trago- die, Darmstadt 1964, S. 42.
6 DaB dabei moglicherweise auch ein Hinweis auf das letzte Kapitel ("Tor") von Franz Rosenzweigs theologischem Werk Der Stern der Er!Osungvor!iegt, kann hier nur angedeutet werden.
gisch genau: Weder identifizierte er das lyrische Ich im "INRI"
einseitig mit dem Autor oder mit eiQem Kollektivbegriff ("Israel") noch meinte er, daB dieses Ich dem als Christus titulierten kirch- lichen Heilsanspruch gegeniiberstehe; vielmehr konstatierte Hoff- mann, daB die "Seele" (Hoffmanns Paraphrase des lyrischen Ich)
"die Frage nach der Realitat des christlichen Heils [bedrangt]"7.
Dariiberhinaus macht Paul Hoffmann darauf aufmerksam, daB der
"INRI" -Zyklus nicht isoliert betrachtet werden darf, wenn es urn die Bestimmung von Wolfskehls Messiasverstandnis geht. DaB Wolfskehl mit dem "INRI"-Zyklus eschatologische Grenzgange vollfiihrt, die sowohl den AusschlieBlichkeit beanspruchenden christlichen als auch manchen jiidischen Interpreten ein Argernis sein konnten, betonte Hoffmann wiederholt. Er weist in diesem Kontext auf die Gleichrangigkeit der Moses, Jesus und Mohammed Figuren in Wolfskehls Gedicht "Das Gesicht" bin, urn die fiir den Dichter so wichtige gleichzeitige Teilhabe an verschiedenen Inter- pretationsgemeinschaften innerhalb aller drei historisch eng ver- wandten monotheistischen Religionsgruppen zu betonen.s Hoff- mann zeigt, daB die Beriicksichtigung der Entstehungsgeschichte derjenigen anderen Werke, welche den eschatologischen Themen- kreis behandeln, uns wichtige Hinweise auf W olfskehls Engfiihrung der christlichen und jiidischen Messianik erlaubt, reichen doch die ersten Entwiirfe des "INRI"-Zyklus in die Zeit von "Die Stimme spricht" und fallen seine abschlieBenden Fassungen in die Jahre der Arbeit am "Hiob". Auch gibt Hoffmann bereits einen Hinweis, in- wieweit das "Hiob Maschiach"-Gedicht Wolfskehls Spitzensiitze in der Frage der Messianik enthalt und warum es gegeniiber dem
"INRI"-Werk letzthin privilegiert erscheint: " ... virtuell und relativ [ist] jeder Mensch Mitbereiter des messianischen Reiches. Und keiner, auch nicht der Erleuchteste, erscheint als Quell aller Erlo- sungsgnade" .9
Die gestalterische Besonderheit des Zyklus als Bibliodrama, in wel- chem eine menschliche und eine gottliche Stimme ein Wechsel- gesprach fiihren, wurde in der Forschung bisher kaum hinreichend beriicksichtigt. Denn erstens finden wir im "INRI" ein biblisches Gestaltungsmerkmal vor, das insbesondere im Buch Hiob zur An- wendung kommt und Wolfskeh,ls messianisches Bibliodrama daher wiederum auch auf seine Auseinandersetzung mit der Thora ver-
7 Hoffmann, Paul, Das religiOse Spiitwerk Karl Wolfskehls, Maschinen- schriftl. Dissertation, Wien 1958, S. 180 (Hervorhebung N.P.F.).
8 Hoffmann, a .a. 0., S. 185.
9 Hoffmann, a. a. 0., S. 180.
weist. Zweitens liegt eine direkte strukturelle Parallele zu "Die Stimme spricht" vor, in welcher die gottliche "vox" als diejenige JHWHs bestimmt werden kann. Unabhiingig davon, ob in "INRI"
eine andere Stimme, namlich vorrangig Jesu Stimme sprache, oder ob die jesuanische Stimme mit der gottlichen teilweise identisch ware - die intertextuelle Parallele darf nicht unberiicksichtigt blei- ben. Sowohl hinsichtlich der ji.idisch-christlichen Uberlieferungs- geschichte als auch innerhalb von Wolfskehls Gesamtwerk ist
"INRI" ein Intertext; die Gesprachskonstellationen und Stimmen aus anderen verwandten Dialogtexten sollten nicht i.iberhort wer- den.
3. Zur Entstehung der Tafeln
Durch sein Interesse an der religiosen Uberlieferung des Judentums beschiiftigte Wolfskehl sich bereits fri.ih mit Fragen der Eschato- logie und der Messianik. Sein mediavistisches Interesse und seine Leidenschaft fiir Barockliteratur konfrontierten ihn mit christlicher Theologie und Kultur. Eine friihe Vorlesungsmitschrift Wolfskehls, die wohl ein barockes Erbauungslied wiedergibt und Bearbeitungs- spuren von W olfskehls eigener Hand tragt, fand sich ji.ingst im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.lO
Das friiheste Wolfskehl Gedicht mit dezidiert christlichem Inhalt, das sich ki.irzlich ebenfalls in Marbach fandll, sei hier in seiner ersten und letzten Strophe wiedergeben. Es tragt die Uberschrift
"Griindonnerstag" und wurde vermutlich 1925 geschriebeni2,
Hast du mich denn verlassen lch ruh(t) in deiner Huld (?) lch will die Sterne fassen Wes ist dein Him(m)el ... (?) [
...
]Du hast dich losgerissen ....
So fiel ich aus dem Bann Mein Kleid ist lang zerschlissen Leer Herz und Blick und Hand
10 Ich mochte an dieser Stelle der Deutschen Schillergesellschaft und dem Deut- schen Literaturarchiv in Marbach herzlich fiir ein Forschungsstipendium zur Er- forschung von Wo1fskehls Exilwerk im Januar 1998 danken.
11 DLA 85.54.36.
12 Handschriftlich datiert auf dem Gedichtblatt, vermutlich von Wolfskehls eigener Hand.
Die Parallelen zum spateren "INRI" -Zyklus sind auffallig. Das Griindonnerstag-Gedicht ist ein sehr' friihes Zeugnis fiir das dialogische Prinzip bei Wolfskehl; bier richtet sich eine Beter-Stim- me an einen gottlichen Adressaten. Der Sprachgestus der ersten Strophe und die Tatsache, daB das lyrische Subjekt ohne Antwort bleibt, weisen auf die Dritte Tafel ("R") des "INRI" -Gedichtes voraus.
Zur eigentlichen Entstehungsgeschichte des Zyklus, bier nur eine kurze Liste wichtiger Stationen: Manfred Schlosser zitiert in seinem Katalog zwei Strophen aus dem 9-strophigen Gedicht "Die Acht und das neunte J a." Er datiert sie auf 1933/34. In dieser Zeit - teilweise im Zusammenhang mit den Gedichten der "Stimme" diirf- te auch eine dreiteilige Fassung entstanden sein, denn in einem Diarium von 1933/34 findet sich der Titel "Triptychon Christia- num". Spatere Fassungen, so die an Pater Michels gesandten, lassen eine Erweiterung von einer "Tabula Triperdita" ( ohne Datum) zu einer "Tabula Quatema/ Quam sculpsit/ Unus ante Portam" (1939 versandt) beobachten. Die Typoskripte besorgte Margot Ruben, sie enstanden also nach November 1934."13
4. Historische und politische Umstande
Einen Tag nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 verlieB Karl Wolfskehl Deutschland, er ahnte, was die Nazi Herrschaft bedeuten wiirde.
Wolfskehl ging tiber die Schweiz ins italienische Exil, dann - kurz bevor auch Italien 1938 antisemitische Gesetze einfiihrte - nach Neuseeland, den Europa-femsten Ort, denn Wolfskehl muBte auf dem Alten Kontinent urn sein Leben und sein Werk fiirchten; ein
"Europa-Eke!" angesichts der Selbstvergessenheit der geistigen Eliten erfiillte ihn.
In einem Gedicht der "Stimme" hatte es im Hinblick auf die tradi- tionsvergessenen Deutschen, insbesondere auch die Christen in Deutschland, geheiBen:
Mit unseren Geslingen habt ihr euren Gott gesucht,
Mit unsern Satzen, Worten habt ihr gesegnet, habt ihr geflucht, Mit unsern dunklen Mliren seid ihr gross geworden:
- - - -
13 Diese Informationen verdanke ich Friedrich Voit, dem an dieser Stelle beson- ders herzlich fi.ir seine freundschaftliche Forderung meiner Wolfskehl-Forschung gedankt sei! Ohne seine Anregungen und fachliche Hilfe ware dieser Aufsatz nicht moglich gewesen.
Wo blieb durch tausend Jahre euer Norden?l4
Die deutsche Kultur wird bier in den Kontext der jiidisch-christli- chen Geschichte gestellt; sie basiert wesentlich auf der christlich- abendHindischen Interpretationsgemeinschaft, die im Alten und Neuen Testament ihre Wurzeln hat. Ihre Narrationen sind ganz iiberwiegend jiidisches Traditionsgut. Die Bibel ist die entscheiden- de Grundlage abendHindischer Theologie und Literatur. Individuell und kollektiv sind es die sprachlichen Grundlagen, die "Satze und W orte" des jiidischen Gottesverstandnisses, der jiidischen Ge- schichte mit Gott, mit dem die Deutschen vom Mittelalter iiber Luther bis in die Neuzeit aufwuchsen, an denen sie sich zu einer Kulturnation bildeten imd die sie zu geistigen Rezeptions- und Eigenleistungen anregten, mit denen sie dann selbst beriihmt ("graB") wurden. Die deutsche Sprachschopfung Luthers findet in biblischer Sprache, in ihrer Anschaulich- und Gedanklichkeit, statt.
Doch biblische Sprache war im deutschsprachigen Raum nicht al- lein geschichts- und identitatsstiftendes Medium, sie war dariiber- hinaus auch sakramentale Sprache ("Mit unsern ... Worten habt ihr gesegnet..."). So muB Karl Wolfskehl in Anbetracht des von den Nazis proklamierten "nordisch-germanischen" Tausendjahrigen Reiches wehmiiig von dem Abschied eines anderen tausend Jahre wahrenden Reiches, dem der jiidisch-deutschen Gemeinsamkeit, spree hen:
Tausend Jahre huben an und enden in unserer Weise, Tausend Jahre zerrannen und wenden sich leisel5
Speziell fiir die an "nordischer Religion" und an einer Identifizie- rung von griechischer Antike und deutschem Neu-Heidentum in- teressierten Mitglieder des George-Kreises schrieb Karl Wolfskehl die folgenden Passagen seinem "Lebenslied, An die Deutschen"
em:
Dein Weg ist nicht mehr der meine, Teut, dir schwant, erkoren seist Du am Nordgrat, nicht am Rheine, Lug sei, was dich Andern eine, Lug das Lamm in Kreuzespeine, Blut sei Same, Gift der Geist.
- - - -
14 GW I, S. 158.
15 GW I, S. 158.
Borgst dir Zeichen, Zucht und Richter, Loschest aus die eignen Lichter, Hihrst vom Weltentempelhaus Deiner Kaiser, deiner Dichter Briillend, Teut, ins Dunkel aus:
Wiisstest du was drinnen kreist!
N acht hat auch zu mir gesprochen, Gottesnacht, schwer drohnt das Wort:
Losgebrochen! Losgebrochen!16
"Teut" ist das Eponym fur jene Anhanger des Georgeischen Ge- heimen Deutschland, welche dieses aus seiner christlich-mittelal- terlichen Tradition herauslosen wollten. So wird das Lamm Gottes hier mit einer Deutungstradition Georgeischer Reichsmystik kon- frontiert, die allein auf den Bezug der deutschen mittelalterlichen Kaiserreiche zur romischen Antike abhob. Aber auch die litera- rische Geschichte wurde von Wolfskehl auf Antizipationen dieses Traditionsbruches untersucht. So hieB es 1936 in einem Brief an Edgar Salin:
Die Heinesche Vision hab ich inzwischen gelesen und wie Sie mit Staunen und sehr ergriffen. Das Unheimlichste ist die Wen dung gegen Westen und die Ahnung wotanischen Losstiirmens, der prachristianischen ... Krustensprengung.17 Heinrich Heine hatte geschrieben:
[ ... ] und wenn einst der zahmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt empor die Wildheit der alten Kampfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Die alten steinernen Gotter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt, und reiben sich den tausendjahrigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zer- schlagt die gotischen Dome. Wenn Ihr dann das Gepolter und Geklirre hort, hiitet Euch, ihr Nachbarkinder, Ihr Fran- zosen [ ... ]18
In seinem "Lebenslied" findet sich zum ersten Mal bei Wolfskehl
16 GW I, S. 219.
17 Bai, S. 195.
18 Im III. Buch der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (Heinrich Heine, Siimtliche Weke [Hrsg. H. Kaufmann], Bd. IX. Munchen 1964.
s. 283.
- und in der Dichtung des George-Kreises - der Hinweis auf die christliche Lamm-Gottes-Tradition, die hier mit dem "Weltentem- pelhaus" der deutschen Kaiser und Dichter verbunden wird. Unter dem Schock der politischen Ereignisse in Deutschland modifiziert W olfskehl damit das heroische antike und mittelalterliche Ge- schichtsbild des Kreises und verweist wamend auf die Auserwahlt- heitsphantasien jener George-Deutschen, die meinten auf die jti- isch-christliche Tradition des zum Leiden erwahlten Gottesknechts ganzlich verzichten zu konnen.
Cornelia Blasberg gibt einen sozio-psychologischen Grund fur die Entstehung von Wolfskehls religioser Exillyrik an. So sieht sie die gottliche "vox" in der "Stimme" als Mittel an, einen "sprach- magisch evozierten Raum universeller Verstandigung" zu schaffen, der - bier bemtiht sie ein Wort Georg Lukacs' - einen Rtickweg aus der "transzendentalen Obdachlosigkeit der Moderne" ermog- lichen solle.19 Blasberg erklart die psychologische Dynamik hinter dieser Asthetik des Transzendentalen als eine projektive, da sich
"die Fragen der Gedichte dem Suchenden ... zu individuellen Ant- worten verwandeln."2o
Wenn Blasberg meint, daB die Stimmftihrung der "Stimme" des- halb keinen Anspruch erhebe, "religios zu sein", weil sie nicht in eine kultische oder dogmatische Rede verfallt oder eine Ritusge- meinschaft herbeizufuhren sucht, so ist ihr gewiB zuzustimmen.
Andererseits ist zu fragen, ob der poetische Versuch, mit einer gott- lichen Stimme - und wichtiger vielleicht noch: tiber eine gottliche Stimme - in einen Austausch tiber die letzten Dinge einzutreten, und daraus moglicherweise auch Handlungsanweisungen ftir das Leben im Exil zu beziehen, nicht selbst eine religiose Dimension hat. Ob hierin nicht gerade eine der entscheidenden Starken der jtidischen religiOsen Tradition, die Wolfskehl in der "Stimme"
ebenso wie im "INRI" erneut zur Sprache bringen will, besteht.
Denn wie vorteilhaft unterscheidet sich die offene, mitteilsame Dia- logizitat mit und tiber Gott und Messias in der "Stimme" und im
"INRI" etwa von den kultischen Uberlieferungen des George- ischen Maximin-Kults, die viel apodiktischer und zwanghafter ge- gen die Entzauberung und Entmythologisierung der Moderne in Stellung gebracht werden. Der Raum "universeller Verstandi-
19 Blasberg, Cornelia im Nachwort des von ihr herausgegebenen Briefwechsel von Wolfskehls aus Italien. In: Bal., S. 438.
20 Bal S. 438: Es ist hier nicht ganz eindeutig, ob sie dieses fiir den Autor und/
oder den Leser aussagt. Ich beziehe mich im folgenden vor allem auf die Lesart, das dies dem Autor gilt.
gung" ist bei Wolfskehl ganz ernst zu nehmen: als kommu- nikativer - und auch kosmischer - Raum menschlichen Sprechens, der jedoch, wie wir im "INRI" erfahren, aus der gottlichen Ge- schichte und Kosmogenese selber hervorgeht und - wie W olfskehl uns zunachst im "INRI" und spater im "Hiob Maschiach" zeigt - im Du, im Gegeniiber des leidenden Gottesknechtes seine onto- logische wie moralische Letztbegriindung hat.
5. Zur Rezeption jiidischer und christlicher Theologie
Man darf davon ausgehen, daB W olfskehl die gesamte einschlagige jiidische Literatur seiner Zeit zur Leben-Jesus-Forschung und Mes- sianitat gekannt hat.2t Als religions- und mythengeschichtlich In- teressierter, als einer der Mitbegriinder der Miinchner Zionisten Gruppe und als Altphilologe hatte er die besten Voraussetzungen, den Diskursen der jiidischen Theologie zu folgen und an ihnen teilzunehmen. Die jiidische Leben-Jesu-Forschung hat in der
"INRI" -Dichtung erhebliche Spuren im Detail hinterlassen.22 Entscheidend war fiir Wolfskehl allerdings die Einbettung des ge- schichtlichen Jesus in die jiidische Uberlieferung an sich.
Der George-Tradition folgend interessierte Wolfskehl die empiri-
21 Die religionsgeschichtliche Literatur von Leo Baeck (Die Pharisaer, 1934), Robert Eisler (Jesus basileus ou basileusas, Heidelberg 192911930), Joseph Klausner (Jesus von Nazareth, Berlin 1934) Emil Ludwig (Der Menschensohn, Berlin 1928) darf man bei Wolfskehl wohl als bekannt voraussetzen. Zeitzeugen und Wolfskehlinterpreten haben Wiederholt auf den weiten kulturgeschichtlichen Horizont des Dichters hingewiesen, der mit groBer Wahrscheinlichkeit auch seine zeitgenossischen Standardwerke der jiidischen Leben-Jesu-Forschung um- faBte. Eine ausfiihrliche Untersuchung einer Rezeption der genannten Titel bleibt ein Forschungsdesiderat; die nachfolgende FuBnote mag demonstrieren, inwie- weit Wolfskehl etwa das Standardwerk Giidemanns rezipiert haben konnte.
22 Anregungen zu den Urmythen in der Ersten Tafel konnte Wolfskehl etwa durch die Lektiire von Moritz Giidemann (Religionsgeschichtliche Studien, Leipzig 1876) erhalten haben. So die Stelle, wo der "Vogel ohne Geburt aus dem Ei" er- scheint; bier mag neben der griechischen Mythologie auch Giidemanns Paralleli- sierung mit jiidischer und christlicher Uberlieferung wichtig sein (vor allem im Kapitel "Der Vogel Phonix, das Symbol der 'Auferstehung' und 'unbefleckten Empfiingnis'"). Man beachte Giidemanns Anfiihrungszeichen; die christliche Auferstehung spielt weder bei Giidemann noch in Wolfskehls ·"INRI" eine entscheidende theologische Rolle.
Daniel Chwolson diskutiert in seinem Buch Das letzte Passahmahl Christi und der Tag seines Todes. Nach den in Ubereinstimmung gebrachten Berichten der Synoptiker und des Evangelium Johannis (Leipzig 1908, S. 189) ausfiihrlich _ das Verhor Jesu durch Pilatus; dieser Text mag Wolfskehls Zweite "INRI" Tafel
beeinfluBt haben.
sche Jesus-Figur daher letzlich weniger als die geschichtliche und sinnbildliche Gestalt. Insgesamt ist seine (N eu-) Interpretation der Verankerung der christlichen Uberlieferung in der jiidischen Tra- dition nicht ohne die jiidische Religionswissenschaft urn die J ahr- hundertwende zu denken. In einer Schliisselstelle cler Zweiten Tafel heiBt es:
BIST DU Davids Reis und stehest in Unserem Buch mitten drin?
- Dir tagt es. Ich Bins. - 23
Dieser Passus ist vomehmlich mythologisch und iiberlieferungsge- schichtlich, aber durchaus auch historisch-kritisch zu verstehen.
Insbesondere die Bedeutung von Martin Bubers Ich-Du-Dialo- giziHi.t fur Wolfskehls religiose Exildichtung kann nicht genug betont werden. Als Gestaltungsprinzip, im Gesprach zwischen einer menschlichen Stimme und ihrem gottlichen Gegeniiber in Form einer "vox", findet sie sowohl in der "Stimme" als auch im
"INRI" und im "Hiob" Verwendung. In einem offenen Brief an den protestantischen Theologen Gerhard Kittel vom Juli 1933 hatte Buber das Gesamt der (Heils-)Geschichte als Gottes Gesprach mit der Menschheit bestimmt:
Geschichte ist keine Thronrede Gottes, sondern sein Ge sprlich mit der Menschheit. Wer nicht alles verfehlen will, muB darauf bedacht sein, die Stimmen der Partner zu unter scheiden.24
Dieses Wort von Buber konnte geradezu als Motto des "INRI"
stehen.
Auch die Rezeption von Franz Rosenzweigs Werk, vor allem seines
"Stem der Erlosung", hat den "INRI" -Zyklus mitgepragt. Her- vorzuheben ist bier vor allem Rosenzweigs Kritik einer theolo- gischen Idealisierung Christi, die ihn aus seinen lebenswirklichen Beziigen lost und damit wirklichkeitsfremd und ideologieanfallig macht. Eine Rosenzweigsche Schliisselpassage im Zusammenhang mit dem "INRI" lautet:
Ob Christus mehr ist als eine Idee - kein Christ kann es wissen. Aber daB Israel mehr ist als eine Idee, das weiB er,
- - - -
23 GW I, S. 195.
24 In: Buber, Martin, Die Stunde und die Erkenntnis. Reden und Aufsiitze, Berlin 1934, S. 176.
das sieht er. Denn wir leben. Wir sind ewig, nicht wie eine Idee ewig sein mag, sondern wir sind es, wenn wirs sind, in voller Wirklichkeit.25
Die Betonung des hier gleichermaBen ontologisch wie geschicht- lich-transzendent gebrauchten Verbes "sein" ("Wir sind ewig, wir sind es, wenn wirs sind") findet sich in der auf den hebraischen Gottesnamen anspielenden SchluBzeile der Zweiten Tafel im
"INRI", aber auch in der Vierten, in dem auf Israels fortgesetztes historisches Sein als fundamentalem Bestandteil gottlicher Heils- wirklichkeit - und als Komplement zur christlichen Eschatologie - aufmerksam gemacht wird.
Auch hinsichtlich der christlichen Theologie nmB man davon aus- gehen, daB Wolfskehl die zeitgenossischen Autoritaten kannte, zum Teil sogar personlich kannte. Mit einem der groBten christlichen Leben-Jesu-Forscher seiner Zeit, mit Albert Schweitzer, war er bekannt. In einem Widmungsgedicht auf Schweitzer aus dem Jahr 1932 heiBt die Sch1uBstrophe, die in dem Geist- und Aonenhyrnnus am Ende der Zweiten "INRI" Tafel ein Echo hat:
Du Geist von Giinsbach, dich zu spiiren Welch Seinsgewinn!
Du sollst mich meine Strasse fiihren So wie ich selber bin!26
Bultmanns bahnbrechende Jesus Monographie von 1926 gehorte zum selbstverstiindlichen Wissen der theologiseh Interessierten sei~
ner Zeit. Allerdings war Wolfskehls nicht wie Bultmann an der jesuanischen Theologie selbst interessiert; mit Bultmann konnte die Entmythologisierung Jesu jedoch ftir Wolfskehl vor allem eine Fra- ge an das eigene Messias- und Auferstehungsverstandnis gewesen sein, die im "INRI" im Sinne von Rosenzweig beschieden wird.
Eine personliche Freundschaft verband Karl Wolfskehl mit Pater Thomas Michels OSB, dem auch ein Widmungsxemplar des
"INRI"-Zyklus zuging (DLA 75.296/1)27. Michels war kein sy- stematischer Theologe, sondern vor allem Kirchengeschichtler. An- regungen von ihm kamen Wolfskehl hauptsachlich aus Gespra- chen. Michels Beziehung zu Wolfskehl war aber nicht nur durch
25 Rosenzweig, Franz, Der Stern der Er!Osung, Frankfurt a.M. 1993, S. 461.
26 GW I, S. 263.
27 Die Widmung lautet: "Dem von Herzen verehrten Herrn Thomas Michels O.S B. in Dankbarkeit und Freundschaft. Karl Wolfskehl".
theologische Dialogizitat gekennzeichnet, sondern teils auch seelsorgerlicher Art. Das bezeugt der Briefwechsel. So heiBt es in Wolfskehls Brief vom 19. IX. 1938 u. a.:
Lieber, verehrter Pater Thomas,
Eine unausprechliche Freude hatte ich mit Ihrem Brief, sie dauert fort. Ihren Zeilen entstromt sie wirklich, die himm- lische vox! Und etwas von ihr flutet in mich, der ich einsam und doch mit dem fiirchterlichen Geschehen in der Heimat verbunden ... (bin).
Sie wissen urn mein Ringen, Pater Thomas! Und wir Euro- plier, nun da und dort gelandet, in immer nur notdiirftig ge- zimmerter Seelenhausung untergekrochen, wir mtissen aus- harren, "es geht urn die Erhaltung, die Sicherung eines viel- tausendjahrigen Kontinuums ... das heute des gottlichen Schutzes befiirftiger (ist) als irgendwann, freilich auch gewiB.
[
...
]Sie kennen die Tabula, sie ist eine Quaterna geworden mir selber zum staunenden Schreck, und die Losung ist immer noch weit in der Feme. Dies 4. Gedicht kann ich Ihnen noch nicht darreichen, es ist von diesen letzten Tagen hier noch zu herznah - ich gebe es nachstens.
[
...
]Schreiben sie mir wieder, Pater Thomas, ich habe viel Festigung davon! Ich bin in Verehrung und Freundschaft der Ihre
Karl Wolfskehl.28
Das freundschaftliche Verhaltnis zu Michels wird bier ebenso deutlich, wie die Tatsache, daB der Benediktiner als ein Sprachrohr der Gottheit aufgefaBt wird. Die gottliche "vox" des Gedichts verdankt Pater Michels also wichtige Impulse. Was Wolfskehl mit der "Losung", die immer noch in weiter Ferne stehe, meint, ist nicht vollstandig klar. Es ist vermutet worden, daB sie zusammen mit dem "Ringen" einen Hinweis auf mogliche Konvertierungs- gedanken Wolfskehls ausdriickt. Bedenkt man jedoch Wolfskehls feste Verankerung im Judentum und in der Weltanschauung Geor- ges, so ist dies unwahrscheinlich. Viel naheliegender ist, daB Wolfs- kehl bier das Ringen darum ausspricht, wie er seine jiidischen und christlichen Vorstellungen hinsichtlich der Bedeutung Jesu und der Messianik im "INRI" zusammenfiigen kann. Die Vierte Gedicht- tafel im "INRI" und der "Hiob" -Zyklus sind Wolfskehls auto-
28 BaN II, S. 278.
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ritatives Wort hierzu, weshalb der Hinweis auf die "Quaterna"
nicht nur ein editionsgeschichtlicher ist. Wichtig im Brief ist aber auch der erneute Verweis auf die gemeinsame vieltausendjahrige jiidisch-christliche Kultur- und Glaubensgeschichte, deren Bewah-
rung Juden und Christen gleichermaBen aufgetragen ist.
Einen Hinweis auf christlich-zentrierte abendlandische Okumene findet man in Michels Ubersetzung eines Christus-Hymnos von Clemens von Alexandria.29 Andere eventuelle Anregungen Mi- chels fiir W olfskehls "INRI"-Dichtung lassen sich z. Zt nicht nachweisen.
6. Einfliisse des George-Kreises
Obwohl alle George-Biographen aus seinem Kreis auf die beson- dere Bedeutung der katholischen Religion fiir die friihe Sozia- lisation des Dichters verweisen und in jiingster Zeit von Braungart zurecht daran erinnert worden ist, daB George sich bei der Formation seiner weltanschaulichen Gemeinschaft und ihres Kultes ausgiebig bei den Traditionen des Katholizismus bedient hat3o, hatte die Rezeption christlicher - und vor allem jiidischer - Literatur im George-Kreis nur einen untergeordneten Stellenwert.
Seit der Jahrhundertwende stand jiidische Religiositat im Kreis urn George in AnschluB an Nietzsches Religionskritik im V erdacht, ein metaphysisches "Gott-Gespenst" zu propagieren; die griechisch- romische Antike wurde generell gegen die jiidisch-christliche Tra- dition ausgespielt. Zwar konzedierte George im Vorspiel zum
"Teppich des Lebens", daB das "kreuz" noch lange Zeit das
"Iicht der erde" fiir die "menge", die unprofilierte, resentiment-
29 Michels tibersetzte u. a.:
Lieder, lautere, Lieder, untrtigende, Dem Konig Christos, Heilig Entgelt fiir Die Lehre des Lebens, Singen im Bund wir, Singen einfaltig
Den Sohn, ja den machtigen Reigen des Friedens, Die Christosentsprossenen, Yolk, verstandiges,
Singen im Bund wir den Gott des Friedens.
30 V gl. Braungart, Wolfgang, A.sthetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Ttibingen 1997.
volle Masse der Menschen bleiben werde. Der George-Kreis, der sich gleichermaBen als politische Elite und als eine religiose Schar Auserwahlter verstand, wollte indessen eine neue Mythologie reali- sieren:
Eine kleine schaar zieht stille bahnen Stolz entfemt vom wirkenden getriebe Und als losung steht auf ihren fahnen:
Hellas ewig unsre liebe31.
Vor allem im "Templer"-Gedicht des "Siebenten Ringes" wird jedoch Georges griechisches Ideal des schonen Leibes und eines erotischen Manner- und Heldenbundes auf eigenwillige Weise mit der christlichen Tradition der Johanneischen Logos/Sarx-Theologie verbunden. N aturreligiOse Auffassungen reproduktionsbiologi- scher Schopfung im Zeichen der "GroBen Mutter" will George hier mit seinem gewalttatig-mannlichen Geist-Prinzip tiberbieten:
( ... )
Und wenn die grosse Nahrerin im zome
Nicht mehr sich mischend neigt am untem borne.
In einer weltnacht starr und miide pocht:
So kann nur einer der sie stets befocht Und zwang und nie verfuhr nach ihrem rechte Die hand ihr pressen. packen ihre flechte Dass sie ihr werk willfahrig wieder treibt:
Den leib vergottet und den gott verleibt32
Georges eigenen poetischen AuBerungen - ebenso wie die anderer Kreismitglieder - tiber Jesus Christus sind im "INRI" kaum er- kennbar. Im "Gesprach des Herrn mit dem romischen Haupt- mann" wird ein heldisches Christusbild geliefert, in dessen "Her- renworten" unschwer Georges eigene Vorstellungen tiber hero- ische Eschatolgie zu erkennen sind. Solchem von Holderlin her be- kannten Christus-Herakles gesellt sich bei anderen Georgianer wie etwa Johann Anton ein "apollinischer".33 Von alledem existiert in
31 SW, Bd. V., Stuttgart 1984, S. 16.
32 SW, Bd. VINII., Stuttgart 1984, S. 52
33 So heiBt es in Antons bezeichnenderweise "Michelangelo" iiberschriebenen Gedicht (in: Anton, Johann, Dichtungen. Verlag der Blatter fiir die Kunst, Berlin 1935, S. 21):
( ... )
Herr. hast du so die frommen dir verpflichtet
· - - - -
W olfskehls "INRI" kaum eine Spur. Der heroische Christus wird bei ibm zugunsten einer in jiidischer Tradition stehenden jesuani- schen Messiasgestalt zuriickgenommen; dem erhabenen Christus wird erstmals der Gottesknecht aus Jesaja 53 an die Seite gestellt.
DaB der "INRI"-Zyklus zu Wolfskehls Lebenszeiten nicht verOf- fentlicht wurde, wird neben praktischen Schwierigkeiten auch daran gelegen haben, daB der Exilant nach den Irritationen und Kampfen im Zusammenhang mit der VerOffentlichung der "Stimme" sich mit dem "INRI" bei den Hellas-orientierten George-Anhangern nicht noch groBeren MiBverstandnissen und Anfeindungen ausset- zen wollte.
7. Zur Interpretation der "INRI"-Tafeln 7.1. Zum Gesamtaufbau des Zyklus
V erallgemeinernd kann gesagt werden, daB die vier Tafeln des
"INRI"-Zyklus mit welt- und religionsgeschichtlichen Epochen korrespondieren:
Tafel "I"
Tafel "N"
Tafel "R"
Tafel "I"
Urzeit
Jiidisch-christliche Zeit Neuzeitliches Christentum
Jiidisch-christliche Endzeit, Juden- und Christentum der Zukunft, Apokalypse
Der zyklischen Anlage der Dichtung entsprechend andert sich die Stimme von Wolfskehls menschlichem Gedichtsubjekt im "INRI"- Zyklus ebenso wie die gottliche Antwortstimme, ohne daB sie dadurch jeweils vollig andere wiirden. Die menschliche Stimme kann individuell (Erste und Dritte Tafel) und kollektiv (Zweite und Vierte Tafel) verstanden werden, zuweilen tragt sie deutlich biogra- phische Ziige des Autors (in den heiden letzten Tafeln). Die Got- tesstimme nimmt germanische (Erste Tafel), jahwistische, jesua- nische und Georgeische (Zweite Tafel und Vierte Tafel) Elemente
Wie mich der schonen auge bannend schlagt?
Hat dies der tausend-jahre sinn gerichtet Auf dich der aller schonheit schonste tragt?
lch kann dich. Herr. nur so erkennen: keiner Hat iibers grab. das alle stumm vergisst den schonen leib gerettet - nur du Reiner Bist uns gewahr dass schonheit ewig ist
auf. Dennoch sind vox humana und vox divina insgesamt koharent konzipiert.
Bestimmte stoffliche Motive wie das des Gottesknechts wiederholen sich in abgewandelter Form in den verschiedenen Tafeln; der Got- tesknecht begegnet etwa in der ersten Strophe der Ersten Tafel, der vierten Strophe der Zweiten und der ersten Strophe der Dritten Tafel. Vor allem in der Zweiten Tafel werden alttestamentarische und jesuanisch-neutestamentarische, teilweise dezidiert christliche Theologeme zusammengebracht. Entwicklung, Wiederholung und Verschrankung von Motivkreisen erinnern an die musikalische Kompositionsform der Fuge. So kann man die SchluBverse der Zweiten Tafel, die in der Mitte des Gedichts stehen, als Engfiihrung samtlicher Elemente der Gotteslehre in Wolfskehls "INRI" begrei- fen. Sieht man die Stellung der Engfiihrung achsensymmetrisch, ware der "INRI"-Zyklus in Analogie zu einer Spiegelfuge gebil- det. Folgt man dem Kommentator der Wolfskehlschen Werkaus- gabe und sieht den Mittelmeer-, den "INRI"- und den "Hiob"- Zyklus als zusammengehorig an, steht die theologische Engfiih- rung des "INRI" auch im achssymmetrischen Zentrum dieser drei Zyklen insgesamt.
SchlieBlich bildet die heilsgeschichtliche Periodizierung der Tafeln die Moglichkeit, den "INRI" gleichsam als poetisch-logarithmi- schen Nachvollzug34 des gottlichen Geschichtsdialoges zu erfah- ren. Anders als bei George unterliegt der progressiven Heils- geschichte und der zyklisch-typologischen Geschichte im "INRI"
nicht nur ein (mythologischer) Raum-Zeitlicher Rahmen, sondern in ihm verwirklicht sich unmittelbar gottliches Heilsgeschehen. In Wolfskehls "INRI" steht Gott in und auBerhalb der Geschichte. Er hat metaphysische Aspekte. Bei George verwirklicht sich das Gott- liche rein im Leiblich-Menschlichen. So iiberwindet Wolfskehl die Georgeische Theologie: sein Gott bleibt personhaft ansprechbar, partiell metaphysisch, er bleibt das Gegeniiber, unplanbar, unver- einnahmbar35 - und dennoch dem Gebet, dem fragenden und rin-
34 Mit dieser Beschreibung bemi.ihe ich sowohl die Ethymologie des Wortes als auch dessen mathematische Bedeutung. Demnach ware der INRI-Zyklus gleich- sam ein regelgeleitet abstrahierter Exponent jener gottlichen Sprach- und Dich- tungsgeschichte, der das Gesamt kosmologi~chen und realgeschichtlichen Ge- schehens aufnimmt und in seiner gesteigerten - heilgeschichtlichen - Bedeutung widergibt.
35 Der nicht verfi.igbare Gott der Geschichte erinnert freilich an die Dialektische Theologie; ob Wolfskehl die Werke etwa Karl Barths gekannt hat, ist jedoch nicht zu ermitteln.
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genden Anruf zugewandt.
7 .2. Erste Tafel "I"
Anders als bei der "Stimme" setzt der Dialog im "INRI" seitens der gottlichen "vox" ein. Die dreimalige Frageansprache "WeiBt du ... " kann als Anspielung an altgermanische Mythologie gelesen werden, so an das Frageorakel des gehenkten Odin in der W eltesche Yggdrasil aus der Edda. DaB es urn mythisches Urgeschehen geht, in welchem jedoch von Anfang an die Messiasfrage nach dem
"verhohnten Konig" gestellt wird, erscheint in traditioneller judeo-christlicher Geschichtssicht, in der die Genesis den heilsge- schichtlichen Bericht erOffnet, zuniichst ungewohnlich und doch ist sie fur Wolfskehls mythopoetisches Denken fundamental. Denn so steht der messianische Gottesknecht, der sowohl in den folgenden Tafeln als auch spater in Wolfskehls "Hiob" -Zyklus gestaltet wird, in einem kosmologischen Zusammenhang. Dieser muB nicht unbe- dingt in paulinisch-christlicher Weise als heilsgeschichtliche Teleo- logie begriffen werden; gleichwohl teilt er mit der christlichen Uberlieferung den Gedanken, daB das Messiasgeschehen schon in Zeit- und Seinsbereichen beschlossen liegt, welche dem Anbeginn der (empirischen) Welt vorausgehen. Der Messias ist also ein prii- iionischer und prii-mundaner, der allerdings - wie erst im "Hiob- Maschiach" voll erkennbar wird - je und je in der Zeit seine Wir- kung entfalten und sich neu personifizieren kann. Im "INRI" geht es mithin dialogisch urn das Schicksal des gemarterten Konigs, des leidenden Gottesknechts, des Ebed JHWH, der allen Welten und allem Verstand vorausliegt. 36
Erst in der vierten Strophe, die in christlicher und jiidischer Zah- lensymbolik gleichermaBen bedeutsam ist, setzt die Antwortstimme des lyrischen Ich ein. Dies ist signifikanterweise auch die Strophe, in der nach dem Ursprungsort des Lichts gefragt wird. Wenigstens dreierlei Allusionen scheinen bier moglich: Eine an die Licht- schopfung nach dem Genesis-Bericht, eine an den Logos-Hymnos des J ohannesevangelisten sowie eine, welche auf neo-platonische Lichtmystik abhebt. In jedem Fall ist das ur-mythische Gedicht-
36 Die Praexistenz des Messias konnte Wolfskehl dem apokryphen Ennoch Buch (En 62,7) entlehnt haben. Zu rabbinischen Traditionen, welche eine Praexistenz zentraler GraBen jiidischer religioser Anschauung (Thora, Garten Eden, Gehenna, Thron, Tempel) annehmen, vgl. Frederiksen, Paula, From Jesus To Christ. The Origins of the New Testament Images of Jesus, New Haven und London, 1988,
s.
81.subjekt zunachst gegentiber den Fragen der (gottlichen) "vox"
ignorant ("Weisst du wo wohne Saug-Amme des Lichts? - Von allem und allem und allem nichts! -") Von der Ahnung ("- Ich ahns, ich ahns! -") , tiber das Lemen (" - Ich lern, ich lern! -") bis zur Entflammung (" - Ich flamm, ich flamm! -") und zum Wissen (" - Ich weiss, ich weiss!") entwickelt sich der religiose Horizont der vox humana mit den Fragen bis bin zur Einsicht in das Mysterium christlicher Trinitat und des Pantokrators.
7.3. Zweite Tafel "N"
Die drei ersten Fragen dieser Tafel, welche auf das Involviertsein des angesprochenen· gottlichen Messias in die mythologischen Urberichte des bib lise hen Genesis-Buches (Paradiesbericht, Kains Brudermord, Sintflut) abzielen, werden direkt und positiv, wenn auch im Prateritum beantwortet ("- Du fragst es. Ich wars. - ").
Hervorzuheben ist bier wie auch in den folgenden Strophen, daB die befragte Gottesstimme nicht nur symbolisch oder metaphysisch in den zitierten Geschichten der Thora vorkommt, sondern daB von ihrer "tatsachlichen" Anwesenheit ausgegangen wird. Der gott- liche Ansprechpartner war nicht wie oder durch Noahs Taube in der Urgeschichte aktiv, sondern er war Noahs Taube. Es geht bier also urn mehr als urn einen alttestamentarischen Schriftverweis, urn mehr als literarisch-prophetische oder topologische Prafiguration des messianischen Heils - es geht urn die Frage nach der wahrenden ontologischen Prasens des Messianischen (des Messias) in der Geschichte. Ftir den "INRI"-Dichter war und ist der Messias auch jenseits des jesuanischen Geschehens und seiner Oberlieferung in den Evangelien und seiner Theologisierung durch Paulus immer schon dagewesen. Er ist bereits der biblischen Urgeschichte eingeschrieben und mehr noch: er ist in ihr partiell realisiert.
Die Fragen, welche auf die biblischen Erzvatergeschichten und zugleich dezidiert auf christologische Zusammenhange verweisen (so in Strophe vier: "BIST DU das Lamm ... ?") werden signifi- kanterweise anders erwidert, namlich mit der Wendung : "- Du sagst es. lch bins. -" Der messianische Gott des Alten und Neuen Testaments wird bier erkennbar, als einer, der sich auf die jtidisch- biblische Geschichte ganz eingelassen hat. Er ist das Opferlamm, das Abraham an Isaaks Statt opfert, er ist das Lamm Gottes, das zur Erlosung ftir viele geopfert wird (Joh. 1, 29; Apokalypse 5,12).
DaB das "Ich war" dieses Gottes sich gerade in der Abrahams- Strophe zu dem "Ich bins" wandelt, ist bezeichnend. Denn die
Abrahamitische Geschichte ist diejenige in der Bibel, in der Gott sich ganz dem Leben des Erzvaters wie der Hebdier als Volk verbindet. Abraham ist die erste biblische Gestalt, mit der Gott einen fortgesetzten Dialog aufnimmt, der iiber die Generationen- folge auf das Eschaton der Geschichte, das Gelobte Land, verweist.
Der Stammesgott wird in dieser Oberlieferung als dialogischer Gott zum Geschichtsgott. So tritt er in seiner Beziehung zu Abraham, dem Stamm der Hebraer, und spater der jiidisch-christlichen escha- tologischen Tradition als Ansprechpartner in die Geschichte ein. Er ist seitdem an der Seite seines Volkes.
Aber das gottliche " - Du sagst es. Ich bins. -" erscheint auch im Dialog des verklagten Jesus mit dem Hohen Priester ("Kaiphas").
Wolfskehl bezieht sich bier auf die synoptischen Evangelien, vor allem die lukanische Uberlieferung, die mit dem Wortlaut seiner Gedichterwiderung "Du sagst es. Ich bin's" beinahe wortlich iibereinstimmt37. Das alttestamentarische und neutestamentarische Geschichtsengagement Gottes steht bei Wolfskehls also gleicher- maBen auch im Zeichen eines Gurististischen) Prozesses und einer Opferhandlung.
In der zahlenmystisch fiir Juden und Christen gleichermaBen be- deutsamen zwolften Strophe ("BIST DU Davids Reis und stehest in!Unserm Buche mitten drin?")38, wird die Frage nach dem Zu- sammenhang von christlicher und jiidischer Messianik aufgewor- fen. DaB die Menschenstimme im Gedicht nicht nur als die eines lndividuums verstanden werden kann, sondern auch auf eine kollektive (symbolische) Figuration hin deutbar ist, wird in dieser Tafel deutlich, da die Frage nach der Schriftoffenbarung des Mes- sias aus der Perspektive der pluralischen jiidischen Buchgemein- schaft gestellt wird (" .. .in/Unserem Buche ... "). Die Antwort der gottlichen Stimme andert sich bier gegeniiber dem vorherigen Synhedrions-Zitat, es heiBt nun " - Dir tagt es. Ich Bins. -" Dem Frager wird also eine Erkenntniserweiterung (vom lediglichen Sa- gen, Aussagen, Hersagen, mit der Moglichkeit der Projektion) zum Verstehen (aufdammern, "tagen") zuteil. Der Messias steht in Da- vidischer Sukzesson, ist also jiidisch. Und die Selbstqualifizierung Gottes wird im Verb erstmals kapitalisiert: "Ich Bins". Wichtig bier ist, daB der neutestamentarische Messias, Jesus, nicht die Vollen- dung oder Uberwindung des Alten Testaments ist, sondern sein
37 Geht man von der Lutheriibersetzung aus, auf die sich Wolfskehl bei seinen Zitaten und Paraphrasen des NT wesentlich sttitzt.
38 GW I, S. 196 (Hervorhebung N.P.F.).
Zentrum. Aus dem jiidischen Buch, der jiidischen Schriftkultur, geht er hervor und bleibt dessen Mitte ("stehest... mitten drin").
Hier mag auch Georgeische W ortmystik Pate gestanden haben, denn George meinte, alles was die inspirierten Dichter und Pro- pheten gesagt batten, sei immer in Erfiillung gegangen. Hiermit verbindet sich die wissenschaftliche Erkenntnis der jiidischen und christlichen Leben-Jesu-Forschung, daB der empirische Jesus histo- risch, soziologisch und theologie-geschichtlich aufs engste mit seiner jiidischen Umgebung verbunden war, aus ihrer Mitte stammt, und daB seine Verkiindigung sich auf jiidische Poetik und Pro- phetik bezieht.
In der SchluBstrophe wird die Messias-Stimme einen weiteren Schritt erhoht, namlich in der Endzeile der Zweiten Tafel, der ein- zigen im gesamten Gedicht, die vollstandig in kapitalen Lettem ge- schrieben ist und damit auf die maximale Heiligkeit von Stimme und Aussage verweist: " - ICH BIN. ICH BIN. ICH BIN." Diese Zentralaussage bildet die Mitte des ganzen Gedichts. Das Pronomen "es" fehlt bier, die gottliche Stimme ist nicht mehr etwas Bestimmtes, pronominal objektiviertes, also z. B. ihre Ema- nation als jesuanischer Messias, sondem sie gibt sich als Absolutum zu erkennen. Sie ist die Selbstbezeichnung JHWHs, dessen hebra- ische Namensoffenbarung (2. Mo_se 3.14 ff.) "ehje ascher ehje"
auf dem ontologischen Verb "sein" basiert, und traditionell eben als "Ich bin der ich bin" oder "Ich werde sein" (Luther) ver- deutscht worden ist. Damit ist auch das kabbalistische En Sof Prin- zips bezeichnet, der nach kabbalistscher Mystik hochsten und um- fassenden Existenzweise Gottes. In der SchluBstrophe der Zweitert Tafel ist der christliche Universalanspruch des J ohanneischen Lo- gos-Christos, des anonischen Alpha und Omega ("Du Wort, Du Wesung, End Du, Beginn!"), sowie die johanneische Ego-eimi- Theologie (lch bin das Waser des Lebens, lch bin das Licht der Welt, lch bin der Weg und die Wahrheit, etc.) ebenfalls mit einbe- griffen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext die dreimalige - an christliche Trinitat und Erlosungstrias (Paradies, Siindenfall, Brio- sung) erinnemde - Wiederholung des "ICH BIN"; sie korrespon- diert mit der dreimalig groBgeschriebenen Frage im Text "BIST DU"39, diese steht in der ersten, der Paradiesfrage (Strophe 1), so- dann in der Davidsfrage (12) und schlieBlich in der Peccata mundi Frage (16) der Zweiten Tafel; der jahwistische Gott ware damit so-
39 Friedrich Voit verdanke ich den Hinweis, daB diese GroBschreibung hochst- wahrscheinlich von Margot Ruben ftir die Druckfassung der Gesammelten Dich- tungen vorgenommen wurde; in den Manuskripten findet sie sich nicht.
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wahl in der Urgeschichte als auch in jiidisch-christlicher Heilsge- schichte anwesend. Und zwar wiederum gleichermaBen anwesend.
Nicht mehr das jesuanische, an die Kaiphas- und Pilatusfragen ge- mahnende "Ich bins", sondem das jahwistische " - ICH BIN. ICH BIN. ICH BIN" hat in dieser Tafel das letzte Wort. DaB beide in einer Art hypostatischer Union zusammenhangen, wurde oben schon angedeutet. Man kann hier auch eine Art dialogische Um- kehrung ausmachen. Die alttestamentarischen Fragen beantwortet eine Jesus-Stimme, die neutestamentarischen die Stimme JHWHs.
Somit wird die Verbundenheit und die Durchdringung dieser hei- den heils- und iiberlieferungsgeschichtlichen Bereiche aufs nach- haltigste betont: Die jesuanische Messianik ist der Thora einge- schrieben (Strophen 1-12); JHWH- und En-· Sof-Traditionen sind im Messiasgeschehen amEnde der Zweiten Tafel verankert.
Ein Bekenntnis zur christlichen Soteriologie erfolgt jedoch weder in der Zweiten Tafel noch irgendwo sonst in Wolfskehls "INRI"- Zyklus. Der jesuanische Messias ist eine, wenn auch vielleicht die bedeutendste eschatologische Emanation des jiidischen Gottes JHWH. Er ist vor allem ein religioser Messias, der als "Neues Lamm" (Strophe 17) ein gottliches Opfer in der Tradition des Gottesknechtes ist. Er ist hingegen kein Uberwinder des Todes (ein wichtiges traditionelles Messiasattribut der jiidischen Tradition und die Zentralstelle nachosterlich-paulinischer Theologie )4o, er bringt (noch) kein universales Friedensreich, er entbehrt der pluralischen Messianitat und er ist keinesfalls der Vollender politischer Messia- nik, der das Gottesreich aufrichtet.
In der zentralen Endstrophe der Zweiten Tafel verbirgt sich aber noch eine andere religiose Tradition, die sowohl jiidischen als auch christlichen Interpreten hybrid vorkommen mag. Es ist dies der Verweis auf die Religiositat des George-Kreises und seinen Kult- stifter und kultischen Mittelpunkt Stefan George, welcher sich in einem seiner "Maximin"-Gedichte - unter Verwendung christ- Heber Trinitatsmystik - gem selbst als Vater-Figur seines "Neuen Gottes" Maximin geriert. DaB die Teilhabe am Georgeischen
"Sein", seinem poetisch-eucharistischen Kult, von seinen "Jiin- gem" als Gott-Nahe, sinnstiftende und erlosende Gnade gedeutet wurde, ist mehrfach bezeugt.41
40 Vgl. Goldmann, Alain, 'Die messianische Vision im rabbinischen Judentum'.
(In: Stegemann, Ekkehard (Hrsg.), Messias- Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart, Berlin, Koln 1993, S. 62 ff.
41 Vgl. Braungarts Ausftihrungen dazu sowie die Zitate von Wolters und Gundolf (nach seiner Trennung von George: "tiber allem Einzelnen schwebt die Angst...
Georges Gedicht "Ich bin der Eine und bin Beide" aus "Der Stem des Bundes" endet mit den Zeilen: "Ich bin ein end und ein beginn."42 Hier findet sich eine beinahe wortliche Ubereinstim- mung zu W olfskehls Huldigung an den aonischen Messias ("Du Wort, du Wesung, Ende Du, Beginnl").43 Aber die Parallele zum George-Gedicht geht noch weiter: Dem dreifachen "ICH BIN" in W olfskehls "INRI" korrespondiert der Parallelismus von Georges Zeilenanfange: "Ich bin der Eine .. ./Ich bin der zeuger .. ./ Ich bin der degen ... " usw. Sollte in Wolfskehls Jubelruf auf den aonischen Messias und in seinem Bekenntnis zu dem "ICH BIN" JHWHs auch eine Anspielung auf zentrale Passagen von Georges eigener poetischer Religionsstiftung enthalten sein? Man geht wohl nicht fehl, wenn man in dem religiosen Spitzensatz des treuen Gefolgs- mannes, des Freundes und "Trabanten" des "Meisters" George44 eine Synthetisierung aus Elementen jiidischer, christlicher und Georgeischer Gotteslehre sieht. George ist Wolfskehls hochstem Gott mit eingeschrieben.
7 .4. Dritte Tafel
Die dritte ist die einzige Tafel im gesamten Gedicht, in der ein Dialog zwischen gottlicher und menschlicher Stimme nicht zu- stande kommt, in der die gottliche "vox" keine Antwort auf die Frage des lyrischen Ich spricht. So zeigt der Dichter bereits auf der Ebene der dialogischen Realisierung des Textes, daB die Kom- munikation zwischen Ich und Messias - der bier am starksten in christlicher Tradition beschriebefi wird - nicht zustande kommt;
ebensowenig wie die in den Strophen drei und vier angesprochene ( eucharistische) V erbindung erfolgt.
In dieser Tafel weicht die Dialogizitat einem Fragemonolog, der in den ersten sieben Strophen eine Selbstanalyse in Form einer Selbst- befragung enthalt, bevor ein jesuanisch-christlicher Messias ange- sprochen wird. Dieser wird in der ersten Strophe bereits mit
"Heilsherr" bezeichnet, einem Ausdruck, welcher dem alten deut- schen "Heiland" nahekommt, der Wolfskehl als Mediavist selbst-
mit meinem Gott nicht eins zu sein", S. 233). In: Braungart, Wolfgang, A.sthetischer Katholizismus. Rituale der Lfteratur, Tiibingen 1997. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang die Kapitel "liturgische Lyrik" und "Poetische Eucharistie".
42 SW, Bd. VIII., S. 27.
43 GW I, S. 197.
44 Zum Verhaltnis von Wolfskehl und George vergl. Schlosser I. Darin vor allem das Kapitel "Karl Wolfskehl und Stefan George", S. 70 ff.
verstandlich geHiufig war, und welcher der kirchlichen Vorstellung eines messianischen Christus konzeptionell vor allen anderen Passagen im Gedichtzyklus am nachsten kommt. Diese Nahe zum christlichen Messiasverstandnis wird noch unterstiitzt durch die diversen Anspielung auf die Evangelieniiberlieferung.4s Der Leit- gedanke der Dritten Tafel, namlich die Frage der Erwahlung zur Messiasgemeinschaft oder - christlich ausgedriickt - die Heilser- wahlung zum Glauben an Christus und damit zur Kirche Christi als Gemeinschaft der Heiligen, zeigt die gr6Btm6gliche Annaherung des Autors an die Begriffs- und Glaubenswelt christlicher Erlo- sungslehre. Er zeigt aber sogleich auch den Punkt, an dem Wolfs- kehl dem Christentum nicht folgen kann.
Das offentliche poetische In-sich-gehen des Gedichtsubjektes als Fragendem ist aus der pietistischen Erbauungsliteratur ebenso be- kannt wie aus ihren romantischen Adaptionen.46 So begegnet man in den "Geistlichen Liedern" Friedrich von Hardenbergs (Novalis) strukturell erstaunlich ahnlichen AuBerungen einer suchenden
"Seele" wie in Wolfskehls "INRI"-Zyklus. DaB Wolfskehl Nova- lis' Werke genauestens gekannt hat, ist allein schon daraus ersicht- lich, daB er die Werke des Friihromantikers in der Miinchner Rup- prechtspresse herausgegeben hat.47 Im XI. Geistlichen Lied des Novalis etwa wird die strukturelle Parallele der Frageassonanzen zu Wolfskehls Gedicht besonders deutlich, so in den Strophen 5 und 6 ("Hat er sich euch nicht kundgegeben?//Habt ihr von ihm denn nichts gelesen?")48 Novalis' Strophen driicken jedoch einen Ver- kiindigungsgestus aus und seine lyrischen Fragen sind wenigstens fiir die bereits Glaubenden Suggestivfragen. Fiir Wolfskehls Ge- dichtsubjekt ist Selbstbefragung Selbstverstandigung, Lamento, aber auch Ausdruck der Trauer dariiber, daB es trotz intensiver Be- miihungen dem christlichen Gott - auch in seiner Kirche - nicht wirklich begegnet ist.
Die vierzehnte Strophe paraphrasiert die neutestamentarische Eck- stein-Perikope. Die Eckstein-Perikope bezieht Wolfskehls lyrisches
45 Zu beachten ist selbst bier allerdings wiederum ihre Verbindung mit der Thora-Uberlieferung.
46 Es sei an dieser Stelle auch auf die besondere Bedeutung eines anderen Roman- tikers, Clemens von Brentano, fiir Wolfskehl hingewiesen. Diesen Hinweis ver- danke ich Paul Hoffmann.
47 Die mystischen Gedichte des Navalis. Zusammengestellt und herausgegeben von Karl Wolfskehl. Munchen 1922 (als 17. Bd. der Rupprechtspresse).
48 Navalis, Schriften. Bd. I. Das dichterische Werk. Hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart 1960, S. 172.
Ich eigenartigerweise unmittelbar auf sich selbst, und zwar in dem Sinne, daB das Ich selber zu einem Baustein, wenn nicht gar Eck- stein49 des Heilsgebaudes werden mochte. Dieser Sachverhalt ver- dient zusammen mit der letzten, der fiinfzehnten Strophe besondere Beachtung.
Die SchluBtrophe der "R"-Tafel verfiigt iiber acht Zeilen, nach einer gematrischen Lesart Zahl des Verhangnisses. In ihr fragt das lyrische Ich den Messias wiederholt, warum er den Frager nicht angenommen habe ("Hast Du mich nimmer wollen ... ?").so Das Re- flexivpronomen "mich" erscheint in dieser Strophe ebenfalls acht- mal und dominiert deshalb auch die Klanggestalt der Passage.si In dieser Strophe wird die Tragik der Messias-Distanz noch einmal ganz ins Individuelle des Fragenden gewendet. Es scheint hier, als ware es das selbstverkriimmte Vordrangen des Individuums, wel- ches den Kontakt zum Messias versperrt. Und mehr noch: In den SchluBstrophen scheint ein Element von selbstiiberheblichem Automessianismus auf: das lyrische Ich hat selber Ambitionen, zum messianischen Eckstein zu werden. Diese Hybris, so scheint es, biiBt es durch Gottes Schweigen.
7.5. Vierte Tafel "I"
In der Vierten Tafel wird die Dialogizitat zwischen gottlicher und menschlicher Stimme wieder aufgenommen, jedoch nicht in Wech- selrede, sondern in zwei TextblOcken. Durch die explizite Bezeich- nung der gottlichen Stimme als "vox" hat diese Tafel die groBte Ahnlichkeit mit dem dialogisch iihnlich gestalteten Gedichtband
"Die Stimme spricht".
In der Vierten Tafel spricht die "vox", die messianische Eman- ation JHWHs, als jesusanische, denn sie verweist das menschliche
49 Ob das lyrische Ich tatsachlich der Eckstein oder nur ein Bauelement werden mochte, ist syntaktisch nicht eindeutig.
50 GWI, S. 199.
51 Beim lauten Lesen des Textes wird die Aufdringlichkeit der Haufung der "mich"
Stellen deutlich, da beim Reziteren das Phonem "ich" besonders hervorsticht.
Die klangliche Gestalt des Reflexivpronomens fiir die 1. Person Sg. betont die Autoreferenz, die Rtickwendung oder -krtimmung auf den Sprechenden. Seine Selbstverlorenheit wird durch das Verb "verwirken" und die Praposition 'in' ("verwirkt in mich") noch betont. Der Sprecher ist hier nicht mehr als mogliches Subjekt am Heilgeschehen beteiligt oder durch die pradikative Struktur des Gottesnamens (vgl. die Zweite Tafel) in das Wirken Gottes einbezogen, sondern er erscheint entpersonlicht und gottverlassen in seiner Selbstverhaftetheit. In der Begierde zur Apotheose wird der Mensch hier in seiner Selbstbeztiglichkeit schlieBlich zum Gefangenen seiner selbst.